Die reine Inklusion - ein grober Irrglaube
Nichtbehinderte verbauen Behinderten die Zukunft
Thomas Harlander, Schuhmacherausbilder im BBW München und Vorsitzender des Schwerhörigenvereins München und Oberbayern e. V., findet deutliche Worte zur Inklusion, die seiner Meinung nach völlig falsch gehandhabt wird. Er befürchtet massive Nachteile für Menschen mit Behinderung, wenn dem Tun unverantwortlicher Politiker nicht Einhalt geboten wird.
Thomas Harlander
Schumacher-Ausbilder im BBW München sowie Vorsitzender des Schwerhörigenvereins München/Obb e.V.
Inklusion ist momentan allerorten ein großes Diskussionsthema. Der Begriff leitet sich vom lateinischen Verb ›Includere‹ ab und bedeutet einschließen, einsperren, umzingeln. Mit diesem Begriff wird aktuell versucht, bewährte Beschulungsstrukturen aufzubrechen, was nicht zuletzt zum Schaden von uns Behinderten erfolgen würde. Ich bin selbst seit meiner Geburt hochgradig schwerhörig und trage bereits seit meinem vierten Lebensjahr zwei Hörgeräte.
Ich kann vom Glück reden, dass ich zu einer Zeit geboren wurde, wo sich spezialisierte Einrichten um mich bemühten und mir einen optimalen Start in ein selbstbestimmtes Leben ermöglichten. Obwohl heute die Tendenz dahingeht, uns Behinderte zu Nichtbehinderten in normale Klassen zu stecken, war ich froh, dass dies bei mir nicht der Fall war. Ich ging auf eine Schule, wo ich mit anderen Schwerhörigen zusammen beschult wurde. Wir hatten Lehrkräfte, die sich mit unserer Behinderung auskannten und den Unterricht an diese anpassten.
Auch gab es technische Hilfsmittel, wie etwa eine Höranlage, damit wir der Stimme der Lehrkraft lauschen konnten. Auf diese Weise konnten meine Mitschüler und ich dem Unterricht problemlos folgen und wurden so optimal gefördert. Mir ist es ein Rätsel, warum man jetzt diese bewährte Art, uns Behinderte auf das Arbeitsleben vorzubereiten, aufgeben will. Welchen Nutzen hätte ich als Schwerhöriger, wenn ich heute in eine normale Klassen gehen müsste? Niemand kann mir erzählen, dass ich dem Unterricht eines „normalen“ Lehrers in gleicher Weise folgen könnte, wie dem Unterricht, den eine sonderpädagogisch unterwiesene Lehrkraft abhält.
Absolut verloren wäre ich wohl, wenn ich komplett gehörlos wäre und dem Unterricht ohne Gebärdensprachunterstützung seitens der Lehrkraft folgen müsste. Dazu kommt natürlich noch, dass ich auch nicht von den Unterrichtsbeiträgen meiner Mitschüler profitieren würde, denn auch diese könnten mir nicht in Gebärdensprache mitteilen, was sie gerade erzählen. Selbst ein Dolmetscher wäre nur eine Krücke und der Unterricht durch diese Bremse so mitreißend wie ein Actionfilm in Zeitlupe.
Was ich damit sagen will ist, dass endlich Schluss damit sein muss, dass sich Nichtbehinderte Gedanken machen, wie sie uns Behinderte „beglücken“ können. Wir wurden nicht gefragt, ob wir die Inklusion wollen. Hätte man uns gefragt, hätten wir in der Mehrzahl dieses Ansinnen sicher zurückgewiesen, da dieser Weg ein großer Schaden für uns ist. Im Grunde würde man die erfolgreiche Beschulungsarbeit vieler namhafter Pädagogen, die über viele Jahrzehnte erfolgte, gründlich entwerten. Wir Behinderte würden wieder dort landen, wo wir vor 200 Jahren schon einmal standen. Niemand kann mir erzählen dass für uns alles besser wird, wenn Sonderschulen oder Berufsbildungswerke Geschichte sind.
Die Zahl der Behinderten wird rasant steigen, die durch den Irrweg der Inklusion kein selbstbestimmtes Leben mehr werden führen können, weil ihr Wissens-Fundament dies nicht mehr möglich machen wird. Bereits heute haben sogar Nichtbehinderte massive Nachteile im Berufsleben zu erwarten, weil unverantwortliche Experimentatoren bewährte Beschulungsmethoden beiseiteschieben. Selbst der Spiegel schreibt in Ausgabe 25/2013 von der „neuen Schlechtschreibung“. Das Ziel dieses „modernen Unterrichts“ soll sein, kreative Geschöpfe heranzuziehen.
Mir ist es ein Rätsel, warum die Arbeitgeber diesem Treiben zusehen, sind sie es doch, die als Erste die Auswirkung dieser Art Beschulung spüren werden. Da hilft auch der Ruf nach Fachkräften aus dem Ausland nichts, denn in der Masse kommen diese sicher nicht. Umso wichtiger ist eine fundierte Ausbildung, wie ich sie erhalten habe. Bestens ausgebildete Kollegen des Berufsbildungswerks München ermöglichten mir damals, in die Geheimnisse des Schuhmacherhandwerks einzutauchen.
Heute bin ich selbst als Ausbilder tätig und bringe meinen Schützlingen bei, wie Leder zu bearbeiten ist, damit daraus langlebige Schuhe werden. Meine eigene Behinderung ermöglicht es mir, mich in die Lage meiner Azubis zu versetzen. Ich kann nachvollziehen, wie es ist, schlecht oder gar nichts zu hören. Dadurch kann ich meinen fachpraktischen Unterricht so gestalten, dass ein maximaler Lernerfolg bei meinen Schülern gesichert ist. Mit dem soliden Fundament einer hochwertigen Ausbildung können diese dann nach der Lehre ihr eigenes Geld verdienen und so, wie ich, ein selbstbestimmtes Leben führen.
Nach der langen Schul- und Ausbildungszeit beginnt dann die „Inklusion“ für uns. Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, dass wir am Leben zusammen mit den Nichtbehinderten unsere Freude haben. Alles was wir brauchen, sind eben Hilfsmittel, wie Hörgeräte, Gehhilfen oder Rollstühle, damit wir unser Handicap überwinden können. Ich zum Beispiel bin sehr dankbar, wenn es Induktionsschleifen in Kinos oder Kirchen gibt. Ich kann mir aber mit einer mobilen Höranlage selbst helfen, wenn es so etwas einmal nicht gibt. Diese setze ich gerne ein, wenn ich wieder einmal als Vorstandsmitglied des Schwerhörigenvereins München eine Versammlung abhalte.
Auf der Grundlage meiner Erfahrung kann ich daher nur die zuständigen Politiker bitten, keine weiteren Experimente zum Schaden von uns Behinderten zu tätigen. Wir möchten, dass auch unsere Kinder und Kindeskinder, sollte diese behindert sein, ebenfalls eine hochwertige Bildung bekommen, damit auch sie ein selbstbestimmtes Leben führen können.
Sollten Sonderschulen oder Berufsbildungswerke dereinst geschlossen werden, wird 200 Jahre Behindertenarbeit zerstört. Wollen wir das wirklich riskieren, nur damit sich unverantwortliche Ideologen ein Denkmal setzen können?
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