Legierungen, die staunen lassen
Werkstücke mit Formgedächtnis
Formgedächtnislegierungen bieten faszinierende Möglichkeiten für Konstrukteure. Im Buch ›Formgedächtnislegierungen‹ zeigen Paul Gümpel sowie fünf Mitautoren auf, wie der Formgedächtniseffekt zustande kommt und wo solche Metalle sinnvoll einsetzbar sind.
An Zauberei und Magie könnte man denken, wenn die Eigenschaften von Formgedächtnismetallen auf spektakuläre Art demonstriert werden. Kein Wunder, dass auch die Ehrlich Brothers diese Metalle nutzen, um ihr Publikum zu verblüffen. Wohl nur wenigen Experten ist bekannt, wie es möglich ist, dass sich Metalle bei Temperaturänderung ganz ohne Zutun intensiv verformen können. Den Schleier dieses Effekts lüftet das Buch ›Formgedächtnislegierungen‹. Hier erläutern Paul Gümpel und fünf Mitautoren den Stand der Wissenschaft, um Formgedächtnismetalle zu verstehen.
Schon in der Schule wird gelehrt, dass sich Metalle bei Wärme ausdehnen und bei Kälte zusammenziehen. Dies geht jedoch nicht mit einer Formänderung einher. Soll bei Temperaturänderung eine Formänderung erfolgen, so muss eine Legierung gefunden werden, die es erlaubt, dass eine reversible und diffusionslose austenitisch-martensitische Phasenumwandlung stattfinden kann. Die Hochtemperaturphase wird hier als Austenit, die Niedertemperaturphase hingegen als Martensit bezeichnet. Interessant ist, dass die Kräfte für die Verformungsarbeit innerhalb des Metallgitters wirken.
Der Grund: Die diffusionslos ablaufende martensitische Umwandlung stellt eine bei der Abkühlung auftretende Scherung des Austenitgitters dar. Im Buch wird ausführlich erläutert, was bei der Scherung passiert: Eine Scherung führt zur Änderung der Stapelfolge der Ebenen und damit zu einer Veränderung der Gitterstruktur. Treibende Kraft ist der Drang des Festkörpers, immer ein Niveau niedrigster Energie einzunehmen. Die Differenz der freien Enthalpie der beiden Phasen ›Austenit‹ und ›Martensit‹ stellt dabei die entscheidende Kraft dar.
Wichtig ist, dass die Anwendungstemperaturen begrenzt sind, soll die Eigenschaft des Formgedächtnismetalls nicht leiden. Dies bedeutet, dass die Verwendung von Formgedächtnismetallen je nach Legierungstyp auf Temperaturen von maximal 100 bis 300 Grad Celsius begrenzt ist. Es gilt, zu verhindern, dass eine Diffusion stattfindet, die dem Formgedächtniseffekt abträglich ist.
Als Formgedächtnislegierungen werden heute vornehmlich Nickel-Titan sowie Kupferbasislegierungen verwendet. NiTi-Legierungen zeigen ein sehr günstiges Formgedächtnisverhalten, sind jedoch recht aufwendig in der Herstellung, deshalb sehr teuer. Preiswerter sind Kupferbasislegierungen, die jedoch unterlegene mechanische Eigenschaften aufweisen. Weltweit wird zudem an Eisenbasislegierungen mit Formgedächtnis geforscht.
Die Autoren haben im Buch sehr viel Information untergebracht, die aufzeigen, dass hier echte Experten ihr Wissen niedergeschrieben haben. So ist beispielsweise nicht nur zu lesen, welchen Einfluss unterschiedliche Legierungs- und Verunreinigungselemente auf einige Eigenschaften von NiTi-Legierungen haben, sondern wird auch die Ursache genannt, wenn manche FGL-Drähte nicht die vom Hersteller angegebenen Verkürzungen erreichen. Es wird hervorgehoben, dass dies meistens kein Fehler in der Legierung ist, sondern von langen Lagerzeiten der FGL-Drähte herrühren kann.
Sogar die Lösung für das Problem wird präsentiert: Über eine kurzzeitige Erhitzung auf rund 10 Grad Celsius über der sogenannten Austenit-Finish-Temperatur lassen sich die vom Hersteller des FGL-Drahtes angegebenen Daten wieder herbeiführen.
Interessant der Abschnitt über die Zerspanbarkeit von NiTi-Legierungen. Diese ist sehr schlecht, der Werkzeugverschleiß immens. Aus diesem Grund kosten Tieflochbohrungen in NiTi-Kapilarrohre derzeit noch rund 1000 US-$ pro Meter Bohrtiefe. Daher wird derzeit mit recht vielversprechenden Ergebnissen untersucht, NiTi als Verschleißschutzschicht einzusetzen. Größere Probleme treten auch beim Kleben von NiTi-Legierungen auf. Die erzielten Festigkeiten sind bei Raumtemperatur so niedrig, dass ein Aufheizen des angeklebten Drahtes zwecks Formänderung zur Ablösung führen würde.
Natürlich kommen die Anwendungsfälle von Formgedächtnismetallen im Buch nicht zu kurz. So ist beispielsweise zu lesen, dass FG-Legierungen mit einer Porosität von 30 bis 90 Prozent als Implantatwerkstoffe eingesetzt werden. Die Porosität verbessert die Biokompatibilität und erleichtert die Gewebeverträglichkeit. Sehr aufschlussreich der Abschnitt, mithilfe eines aktiven Implantats Knochen zu verlängern. In diesem Fall erfolgt per Hochfrequenz-Energieeinkopplung eine Erwärmung des Formgedächtniselements. Die dadurch ausgelöste Längenänderung bewirkt anschließend die Knochenverlängerung, die rund einen Millimeter pro Tag beträgt.
Aufgrund ihrer Eigenschaften ist es naheliegend, dass sich Formgedächtnismetalle auch in Wärmekraftmaschinen einsetzen lassen, wie das Forschungsprojekt der Fachhochschule Konstanz zeigt. Dort haben Forscher eine sogenannte Schrägscheiben-Wärmekraftmaschine entwickelt, in der FG-Drähte abwechselnd erwärmt und abgekühlt werden. Dabei werden sie ausschließlich auf Zug beansprucht. Die Maschine läuft von selbst an und rotiert, solange die Drähte zwischen warmem und kaltem Zustand wechseln.
Viel Potenzial verspricht auch die Forschung adaptiver Strukturen. Mit Formgedächtnismetallen ist es möglich, den Wirkungsgrad von Strömungsmaschinen zu verbessern, indem gezielte Profilverwindungen der Verdichterschaufeln während des Betriebs vorgenommen werden.
Im Buch ›Formgedächtnislegierungen‹ gibt es viel Spannendes rund um Formgedächtnislegierungen zu lesen. Wer wissen möchte, wie der Verformungseffekt zustande kommt, wo sich die Forschung derzeit befindet, solche Metalle herzustellen und wo es nutzbringende Einsatzmöglichkeiten gibt, der sollte zu diesem Buch greifen.
Mehr Informationen:
Titel: Formgedächtnislegierungen | |
Autor: Paul Gümpel und 5 Mitautoren | |
Verlag: Expert-Verlag | |
ISBN: 978-3-8169-2727-3 | |
Jahr: 2018 | |
Preis: 39,80 Euro | |
www.expertverlag.de |
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