Formgedächtnismetalle enträtselt
Einblicke in eine besondere Physik
Dass sich Stoffe bei Temperaturänderungen zusammenziehen beziehungsweise ausdehnen, ist eine uralte Erkenntnis. Diesbezüglich stechen Formgedächtnislegierungen heraus, da diese die verblüffende Eigenschaft besitzen, sich bei Temperaturänderung ungewöhnlich rasch zusammenzuziehen beziehungsweise auszudehnen. Eine physikalische Besonderheit, die sich auf vielfältige Weise nutzen lässt.
Manche Zauberkünstler verblüffen das Publikum mit der Verwandlung eines wild verbogenen Drahtes in ein Herz, eine Wolke oder ein anderes, einfach aufgemachtes Sinnbild. Ursache dieser Verwandlung sind weder magische Kräfte noch komplizierte Zaubersprüche, sondern vielmehr die atomaren Eigenschaften der besonderen Metalllegierung des Drahtes.
Zum Verständnis sei erwähnt, dass das Ändern des Gefüges ein schon lange bekannter Weg ist, die Eigenschaft von Stahl zu ändern. Wird beispielsweise Stahl mit passendem Kohlenstoffgehalt auf Härtetemperatur erhitzt, so bildet sich als Gefüge sogenanntes Austenit aus. Wird nun der Stahl schnell abgekühlt, wandelt sich dieses Austenit in Martensit um, dessen Gefüge den vormals weichen Stahl durch den eingelagerten Kohlenstoff extrem Hart und spröde macht.
Dies ist auch bei Formgedächtnismetallen – beispielsweise Nickel-Titan-Legierungen, die oft als ›Memorymetalle‹ bezeichnet werden – nicht anders. Werden diese erwärmt, so bildet sich auch in deren Gefüge ein austenitisches Gefüge aus, das bei Abkühlung sich zu Martensit umwandelt. Allerdings werden diese Metalle durch den fehlenden Kohlenstoff nicht gehärtet. Und noch etwas ist anders: Wird nun eine Kraft auf das Formgedächtnismetall aufgebracht, so verformt sich zwar das daraus bestehenden Teil, doch kann dieser Zustand durch das Hinzufügen von Wärme rückgängig gemacht werden.
Erkaltet das Teil erneut, so bleibt es entweder in dieser eingenommenen Form (Einwegeffekt) oder es nimmt wiederum den Zustand ein, den es hatte, nachdem die vorgenommene Verformung beendet wurde (Zweiwegeffekt).
Physik als treibende Kraft
Erklären lässt sich dieses verblüffende Phänomen durch den atomaren Aufbau des Gefüges und die Kräfte, die dort bei Wärmeeinwirkung auftreten: Bei der Erwärmung wandelt sich das Martensit wieder in Austenit um, weshalb sich das Werkstück zusammenzieht. Bei der Abkühlung wird wieder Martensit gebildet, das bald darauf diejenige Struktur einnimmt, die nach der händisch oder maschinell vorgenommenen Verformung bestand.
Demnach verlängert sich das Werkstück wieder. Dieser Zyklus, bei dem die Teile eine Längenänderung von maximal sechs Prozent (für NiTi) der Gesamtlänge durchmachen, lässt sich nahezu beliebig oft wiederholen, da Memorymetalle nur einen sehr geringen inneren Verschleiß kennen. 10 bis 100 Millionen Zyklen sind bei Einhaltung entsprechender Grenzwerte problemlos machbar. Zudem können sehr große Kräfte übertragen werden.
Der Grund, warum „scheinbar verschlissene“ Formgedächtnisteile nicht mehr die gleiche „Merkfähigkeit“, wie neue Exemplare besitzen, liegt darin, dass sich im Laufe der Zeit Gitterfehler ansammeln. Dies bedeutet, dass Atome nicht mehr sauber auf ihre Gitterplätze wandern. Derartige Teile sind jedoch kein Fall für den Schrott, sondern können via Erholungsglühen bei entsprechenden Temperaturen neu konditioniert werden.
Ideal für Aktoren und Sensoren
Interessant ist, dass sich bei Formgedächtnismetallen auch der elektrische Widerstand sowie der Werkstückquerschnitt ändern, wenn die beiden Endstellungen eingenommen werden. Sie können daher auch als Sensor verwendet werden. Dadurch wird der Bau von Aktoren möglich, die ohne zusätzliche Signalgeber auskommen, wenn es darum geht, Positionen abzufragen.
Die besondere Eigenschaft von Formgedächtnismetallen – ein nahezu verschleißfreier Wechsel zwischen zwei geometrischen Strukturen – lässt sich für viele technische Anwendungen nutzen, wie interessante Projekte der Hochschule Konstanz zeigen. Das dortige Institut für Werkstoffsystemtechnik kann Beispiele aus der Medizintechnik ebenso vorweisen, wie einen Wärmekraftmotor, der in der Lage ist, die teils sehr warmen Prozesswässer der Industrie zu nutzen, um daraus mechanische Energie oder auch Strom zu gewinnen.
Zwar ist der bereits Mitte der 1990er Jahre aus einer Idee entstandene Motor bisher nicht über das Versuchsstadium hinausgekommen, doch zeigt die Demonstration sehr eindrucksvoll, dass mit Formgedächtnislegierungen ein selbst anlaufender Motor verwirklicht werden kann, der in der bisher höchsten Ausbaustufe in der Lage ist, 63 Watt mechanische Leistung zu liefern.
Als Fernziel schwebt den Entwicklern eine Dauerleistung von 300 bis 500 Watt vor. Der theoretische Carnot-Wirkungsgrad beträgt maximal 39,2 Prozent, was über dem Benzinmotor und weit über Solarzellen liegt. Diese verfügen über Wirkungsgrade von 37 beziehungsweise 19 Prozent. Aufgrund der hohen thermischen und mechanischen Verluste bewegt sich der effektive Wirkungsgrad dieser Wärmekraftmaschine jedoch nur bei rund zwei Prozent.
Interessant ist die Wirkungsweise des Wärmekraftmotors. Das Geheimnis liegt in der Schrägstellung einer Scheibe. Dies ist wesentlich, da die Schrägstellung bewirkt, dass eine durch das Zusammenziehen eines Drahtes aufgebrachte Kraft die Scheibe in Rotation versetzt. Gleichzeitig wird die gegenüberliegende Scheibe durch den straff gespannten Draht zwangsweise mitgenommen.
Um die Ecke denken
Verständnisprobleme über die Motorfunktion treten dann auf, wenn übersehen wird, dass eine durch das Eintauchen in rund 80 Grad Celsius heißes Wasser erfolgte Erwärmung des NiTi-Drahtes keine Verlängerung, sondern eine Verkürzung bewirkt. Der Draht zieht demnach an der Scheibe, die dadurch in Rotation versetzt wird.
Das Tempo der Rotation ist mit bis zu 120 U/min durchaus beachtlich. Diese Rotation bewirkt, dass das an den Drähten anhaftende Wasser weggeschleudert wird, wodurch zusätzlich Verdunstungskälte entsteht. Diese bewirkt wiederum, dass die Drähte sich in sehr kurzer Zeit abkühlen, rasch wieder längen und der Zyklus erneut beginnen kann.
Das besondere Know-how liegt auch in der Dicke des Drahtes, da ein dicker Draht nicht unbedingt mehr Wirkungsgrad bedeutet. Vielmehr ist festzustellen, dass dadurch die Zeit zu lang wird, um die in den Draht eingebracht Wärmemenge wieder zu entfernen, ehe dieser wieder in das heiße Wasser eintaucht.
Doch muss es nicht immer sehr heißes Wasser sein, sollen Memory-Metalle ihre Talente entfalten. Für Stents werden NiTi-Legierungen verwendet, die typischerweise oberhalb von 18 Grad Celsius zu 100 Prozent den austenitischen Zustand einnehmen. Da die normale Körpertemperatur eines Menschen zwischen 36,5 und 37,4 Grad Celsius liegt, ist sichergestellt, dass die in die Arterie eingeschobenen Stents sich sicher entfalten und die Arterie dauerhaft offenhalten.
Auch für das künstliche Längenwachstum von Knochen wurde bereits eine Lösung ersonnen, die Menschen hilft, wieder ein normales Leben zu führen. Hier wird das Implantat mit einem Antrieb aus Formgedächtnismetall in den Knochen eingeschoben und gezielt temperiert, sodass der Körper in die Lage versetzt wird, Knochenmasse am sich nach und nach vergrößernden Knochenspalt abzulagern.
Formgedächtnismetalle können auch ohne elektrischen Strom betrieben werden, weshalb diese automatisch Ex-Sicher sind. Daher werden sie gerne als Aktoren verbaut, die in einer explosionsgefährdeten Umgebung eingesetzt werden.
Es zeigt sich, dass in Formgedächtnismetallen sehr viel Potenzial steckt. Viele Anwendungsmöglichkeiten wurden noch gar nicht erfasst. Es ist damit zu rechnen, dass in nicht allzuferner Zeit völlig neue Ideen die Automatisierung, den Automobilbau, aber auch die Stromerzeugung bereichern werden.
Wer auf einem dieser Felder die Nase vorn haben möchte, tut gut daran, mit den Experten der Hochschule Konstanz, beziehungsweise an deren An-Institut ›WITg‹, Kontakt aufzunehmen, um gemeinsam neue Produkte auf den Weg zu bringen.
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Diesen Artikel finden Sie auch in Heft 3/2019 auf Seite 90. Zum besagten Heft führt ein Klick auf den nachfolgenden Button!
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