Schulische Inklusion - Chance oder Risiko?
Ist gemeinsames Lernen aller Kinder sinnvoll?
Die schulische Inklusion soll Behinderten mehr Chancen bieten, sich zu entwickeln. Der Pädagoge und Publizist Michael Felten zeigt, ob diese Idee Behinderten und Nichtbehinderten gerecht wird.
Eine Schule für alle, also auch für Kinder mit Behinderungen, das klingt für viele Zeitgenossen erstmal erstrebenswert: Barrieren abbauen, sich miteinander entwickeln. 11 Jahre nach Verabschiedung der UN-BRK mehren sich aber die Anzeichen dafür, dass eine derartige Bildungsreform den Bedürfnissen behinderter Schüler oft nicht wirklich gerecht wird.
Die Quote inklusiv unterrichteten Kindern ist zwar in allen Bundesländern gestiegen. Aber der Lernertrag im sogenannen ›Gemeinsamen Unterricht‹ ist vielfach gesunken. Und das wird sich schon bald - mittels sinkender Ausbildungsfähigkeit - auch auf die Wirtschaft hierzulande auswirken.
Markantes Beispiel NRW: Vor sieben Jahren hatte die damalige grüne Schulministerin eine Radikalvariante von Inklusion durchgesetzt. Quasi von heute auf morgen wurde 2013 das gemeinsame Lernen aller Kinder - also besonders behinderter wie auch besonders begabter - zum Regelfall erklärt. Für diese Reform gab es aber weder ein Konzept noch Standards noch mehr Personal - und sie wurde gegen den Rat fast aller Betroffenen und Experten rigide verordnet.
Modellschulen konnten zwar schon seit Jahrzehnten gute Erfahrungen mit der Integration Behinderter vorweisen - sofern diese nämlich durchgängig von Sonderpädagogen mitbetreut wurden. Was aber in den privilegierten Prototypen funktioniert hatte, führte im billigen Serienmodell binnen Kurzem zur Katastrophe. Bestens funktionierende Förderschulen ließ man auslaufen und schickte die Förderlehrer fortan stundenweise an verschiedene Regelschulen. Dort musste man behinderte Schüler auch dann aufnehmen, wenn Ausstattung und Expertise noch gar nicht passten. Diese verloren dadurch die für sie immens wichtige Beziehungskontinuität zu fachlich geschultem Lehrpersonal, während Regelschülern zunehmend effektiver Unterricht entging. Es kam zur „wohlwollenden Vernachlässigung aller“ (Bernd Ahrbeck).
Die Lehrkräfte gerieten in massive Überlastung. Und nicht wenige von ihnen quittierten den Dienst vorzeitig. Studenten wiederum ließen sich auf ein Lehramtsstudium nicht mehr im nötigen Maße ein, weil offensichtlich war, welche prinzipielle Überforderung sie in der inklusiven Schule erwartete. Und Eltern sahen sich zu einer Landtagspetition („Rettet die Förderschulen!“), gar zu einem landesweiten Bündnis „Rettet die Inklusion!“ gezwungen, um ihre Erziehungsrechte zu wahren.
Aber müssen wir die Förderschulen nicht letztlich abschaffen - wegen der Behindertenrechtskonvention der UN? Ein weit verbreiteter Irrtum: Die BRK fordert zwar zu Recht, allen Menschen freien Zugang zum allgemeinen Bildungswesen zu geben - in vielen Ländern waren Behinderte nämlich lange vom Schulbesuch ausgeschlossen.
Allerdings erfüllt das deutsche Schulwesen die UN-Maßgabe nach uneingeschränkter Bildungsbeteiligung für Behinderte bereits weitgehend: Denn unsere Förderschulen sind derjenige Teil des allgemeinbildenden Schulsystems, der gesellschaftliche Teilhabe durch spezifische Unterstützung herbeiführen soll. Solche Maßnahmen gelten laut Konvention gerade nicht als Diskriminierung, sie können im Einzelfall geradezu geboten sein. Übrigens hat die Forschung gute Effekte einer inklusiven Beschulung bislang nur an bestausgestatteten Grundschulen nachweisen können.
In der Inklusionsfrage ist das Schielen auf Quoten jedenfalls Unsinn. Die Devise kann nur heißen: Nicht prinzipielle Inklusion um jeden Preis, sondern nur da, wo es für das einzelne Kind sinnvoll ist – und erst dann, wenn die schulischen Gegebenheiten dies tatsächlich zulassen. Schüler mit schweren Handicaps sind ohne - zumindest zeitweilige - exklusive Lerngruppen einfach benachteiligt, teilweise sogar schwer. Förderschulen bleiben deshalb ein wichtiger, hoch spezialisierter Bildungs- und Entwicklungsort, und sei es nur als flexible Durchgangsepisode.
Es gilt, »dual-inklusiv« zu denken (Otto Speck) und nach individuellen Lösungen zu suchen – eine unterfinanzierte Einheitsschule hilft dagegen niemandem. Kindheit ist eine besondere Lebensphase des Menschen; man sollte sie weniger gerechtigkeitstheoretisch denn entwicklungspsychologisch betrachten. Nicht eine Schule für alle – sondern für jedes Kind die momentan beste!
Denn Ressourcen sind auch nicht alles. So wäre es illusorisch anzunehmen, man könne – wenn nur die Rahmenbedingungen stimmten – alle Kinder durchgängig gemeinsam beschulen, auch solche mit schwersten Entwicklungsstörungen. Kein Land weltweit tut dergleichen. Hierzulande aber propagieren Hardliner derzeit einen „neuen Anlauf“ für „full inclusion“ – obwohl dies letztlich das elterliche Wahlrecht hinsichtlich Regel- oder Förderschulbesuch beschneiden würde.
Wir brauchen also beides, bestens ausgestattete Inklusionsschulen und separate Förderschulen - und diese müssten in einem durchlässigen Verbund mit Regelschulen stehen. Ein zeitweiliges Nebeneinander ist keine Exklusion Ausschluss), sondern Segregation (Aufteilung). Auch kooperative Förderklassen an Regelschulen wie in Bayern (‘Partnerklassen‘) oder Baden-Württemberg (’Außenklassen‘) arbeiten in diesem Sinne.Müsste man nicht alles daransetzen, die Fehler aus NRW oder Bremen im tertiären Bereich nicht zu wiederholen? Auch im Sport gestaltet man Wettkämpfe doch nicht als inklusive Veranstaltung.
Es macht jedenfalls einen Unterschied, ob Jugendliche von einem für die jeweilige Behinderung geschulten Fachlehrer beziehungsweise Ausbilder unterwiesen werden oder nicht. Insofern erscheint es hochgradig kontraproduktiv, die Berufsbildungswerke langfristig abzuschaffen. Dynamische Vielfalt im Bildungssystem gerade auch für Schwächere erhalten, das darf uns einfach nicht zu teuer sein. Steuerentlastungen für Großkonzerne gehen doch auch.
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Diesen Gastkommentar finden Sie auch in Ausgabe 5/2020 unseres Fachmagazins ›Welt der Fertigung‹ auf Seite 93. Zum besagten Heft führt ein Klick auf den nachfolgenden Button!
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