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Inklusion - ein Irrtum mit Folgen

UN-BRK-Dokument falsch ausgelegt!

Die Inklusion wird dem Bürger als Vorteil für Behinderte und Nichtbehinderte offeriert. Michael Felten – Gymnasiallehrer, Schulentwicklungsberater und Buchautor – erläutert, dass diese Weichenstellung Schülern wie Lehrern sowie dem Land und der Wirtschaft erheblich schaden kann.

Sehr geehrter Herr Felten, zunächst ganz aktuell: Hat sich die Corona-Krise auch beim Thema ›Inklusion‹ ausgewirkt?

Michael Felten:
Es ist wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch: Corona hat die ohnehin vorhandenen Schwachstellen des Konzepts ‚Inklusive Bildung‘ wie unter dem Brennglass offengelegt - zum einen bei den Betroffenen, zum anderen auf Seiten der Ideologie.

Können Sie das konkretisieren?

Felten:
Je unterstützungsbedürftiger Schüler sind, je mehr personale Nähe sie brauchen, umso größere Entwicklungseinbußen bringt ein distance learning mit sich – dieses setzt ja neben Digitalisierung stark auf Selbständigkeit oder erfordert Elternbeistand. Wie soll das gehen, insbesondere in sozial schwachen Familien, mit vielleicht hochgradig traumatisierten Kindern? So gerieten viele Familien im Lockdown an den Rand ihrer Kräfte – und nicht selten auch darüber hinaus: Sie mussten ihre behinderten Kinder nicht nur zusätzlich beaufsichtigen, sondern sollten ihnen anstelle der Schule zudem noch etwas beibringen. Auch zahlreiche Lehrkräfte an inklusiven Regelschulen waren heillos überfordert und konnten nur noch auf Notbetrieb schalten, versuchten den verpassten Stoff „nachzufüttern“.

Und wie meinen Sie ‚in ideologischer Hinsicht‘?

Felten:
Da wurde ganz schnell wieder von Ausgrenzung oder Absonderung geredet – nur weil ein behindertes Kind wegen der Raumverhältnisse eine Zeitlang mal im angrenzenden Gruppenraum arbeiten sollte. Oder es wurde beklagt, dass Behinderte wieder als ‚schutzwürdig‘ angesehen würden, denen man Betreuung angedeihen lasse – statt sie als ‚selbstbestimmte‘ Wesen zu achten, denen man höchstens Assistenz schuldig sei.

Politische Entscheidungsträger sind oft beseelt davon, Gutes für die Welt zu tun. Trifft dies auch auf die Inklusion zu?

Felten:
Ja und Nein. Grundsätzlich sind ja alle Bemühungen zu begrüßen, die behinderten Kindern bessere Entwicklungs- und Bildungschancen verschaffen wollen. Wenn aber die Risiken einer übertriebenen oder unterfinanzierten Inklusion hartnäckig geleugnet werden, ist entweder Uninformiertheit im Spiel – oder Ideologie. Viele Befürworter einer radikalen Inklusion hegen etwa die Hoffnung, auf diesem Weg doch noch eine Einheitsschule realisieren zu können – dem gegliederten Schulsystem hängen sie ja gerne das Etikett ›bildungsungerecht‹ an. Nicht zuletzt ist die Inklusion aber auch ein Tummelplatz für finanzielle Erwägungen: Der Politik kämen Einsparungen durch den Abbau separater Förderschulen sicher nicht ungelegen, die Bildungsindustrie freut sich über einen neuen Inklusionsmarkt.

Was wurde denn in der Politik falsch gemacht?

Felten:
Viele Entscheidungsträger haben sich wohl zu wenig gründlich mit der Materie beschäftigt. Inklusion, das hörte sich ja an wie Integration – da kann man doch schlecht dagegen sein. Was das konkret in der Praxis bedeutet und worauf es hinauslaufen würde, haben sich aber wohl nur wenige klargemacht. Es ist die alte Crux, auch im Pädagogischen: Was gut klingt, muss noch lange nicht funktionieren.

Wie ist es überhaupt dazu gekommen, die Inklusion in Deutschland umzusetzen?

Felten:
Während Deutschland schon seit den 1960er Jahren eine hochqualifizierte Beschulung von Kindern mit besonderen Förderbedarfen ausbaute, forderte die UN erst 1994 in ihrer Salamanca-Erklärung, dass „Schulen alle Kinder (...) aufnehmen sollen“ – als Positionierung gegen den damals noch weit verbreiteten Ausschluss Behinderter vom öffentlichen Lernen. Die Behindertenrechtskonvention der UN (BRK) fasste die Rechte Behinderter dann genauer – und bekam hierzulande Ende 2008 Gesetzeskraft, zu nächtlicher Stunde, in einem stark ausgedünnten Bundestag. Die Bundesländer haben die Bestimmungen der BRK dann in ihre spezifischen Schulgesetze überführt, mit unterschiedlichem Tempo, in verschiedenartiger Ausgestaltung und Dringlichkeit – Bayern etwa behutsam, Nordrhein-Westfalen mit der Brechstange.

In Ihrem Buch ›Die Inklusionsfalle‹ legen Sie dar, dass die UN-BRK vor allem sicherstellen wollte, dass Kinder mit Behinderung am allgemeinen Schulsystem teilhaben dürfen. Wurde dieses Papier missverstanden beziehungsweise überinterpretiert?

Felten:
Der UN-Terminus ‚general education system‘ wurde fälschlicherweise mit dem deutschen Begriff der »allgemeinen Schulen« (im Unterschied zu den Förderschulen) gleichgesetzt. Er entspricht jedoch dem, was wir als »allgemeinbildendes Schulsystem« (im Unterschied zu berufsbildenden Schulen) verstehen – und zu diesem gehören eindeutig auch die Förderschulen.

Wer trägt die Verantwortung für diesen Irrtum?Felten: Da könnte man bei den vielen abwesenden MdBs anfangen und bei denjenigen aufhören, die unter allen Umständen ein »Ende jeglicher Sondersysteme und Sonderbehandlungen« (Silvia Schmidt, SPD) wollten. Vorbehalte von Bundesregierung und Kultusministerkonferenz, es müssten »die notwendigen sonderpädagogischen und auch sächlichen sowie räumlichen Voraussetzungen gewährleistet« sein, wurden jedenfalls als »kleinlich«, »inadäquat« und »wirklichkeitsfremd« abgetan.

Wir haben derzeit in Deutschland ein Schulsystem, in dem auch sehr leistungsstarke Sonderschulen für Behinderte existieren, die auf verschiedene Behinderungsarten spezialisiert sind. Die dort tätigen Fachlehrer haben gelernt, ihren Schützlingen Erfolgserlebnisse zu vermitteln. Diese kommen am Ende ihrer Schulzeit in sehr vielen Fällen auch durch die Abschlussprüfungen und ergreifen später einen Beruf, der sie erfüllt. Haben Sie Beispiele, was inklusiv beschulte Kinder erreichen und wie sich deren berufliche Laufbahn darstellt?

Felten:
Bei der Inklusion handelt es sich ja um eine relativ neue Entwicklung, als Breitenphänomen gibt‘s das erstmals ab Mitte der 2010er Jahre – da liegen noch keine belastbaren Daten vor. Frühere Untersuchungen an Modellschulen (damals noch Integration genannt) sind wiederum nicht aussagekräftig, weil dort eine viel günstigere Ressourcenlage hinsichtlich Personal und Räumlichkeiten bestand. Umgekehrt ist eine Vielzahl von Fällen dokumentiert, in denen Schüler nach dem Besuch von Förderschulen adäquate und befriedigende Beschäftigungen fanden.

Kann man sagen, dass inklusiv beschulte Kinder eigentlich um ihr Leben betrogen werden, da diese weit unter ihren Möglichkeiten ausgebildet werden, somit auch nicht den Beruf ergreifen können, der aufgrund ihres Potenzials möglich gewesen wäre?

Felten:
Der Jurist Hansgünter Lang (Lang 2017) urteilt unumwunden: »Die massive Steigerung der Fälle integrativer/ inklusiver Unterrichtung bei völlig unzureichender Personalausstattung hat zu einer massenhaften Nichterfüllung des Bildungsanspruchs behinderter Kinder und damit massenhaften Verstößen gegen ihr verfassungsrechtlich verbrieftes Recht geführt.«

Gilt dies auch für Kinder ohne Behinderung? Schließlich wird der Unterricht entsprechend angepasst, um zu verhindern, dass dem behinderten Mitschüler ein Nachteil widerfährt.

Felten:
Die Idealvorstellung geht ja davon aus, dass jeder Schüler seinen Fähigkeiten entsprechend gefördert wird. Dazu braucht man aber mindestens zwei Lehrer pro Klasse, in fast jeder Stunde – und die hat man derzeit einfach nicht.

In ihrem Buch ist auch zu lesen, dass die damalige Landesregierung von Nordrhein-Westfalen sehr trickreich gegen die Förderschulen agierte. Wurde damit nicht Kindern eine für sie optimale Schulbildung verwehrt?

Felten: Tatsächlich durften die Grundschulen in NRW bei Erst- und Zweitklässlern mit besonderem Förderbedarf beim Lernen diesen nicht mehr amtlich feststellen lassen. Offizielle Begründung: Man wolle den Kindern mehr Zeit lassen und sie nicht vorzeitig aussortieren, die Regellehrer sollten sich erst mal genügend um sie bemühen. Hintergedanke: Je seltener Förderbedarf festgestellt wird, desto weniger Förderschulplätze muss man finanzieren. Man hob auch die Mindestgröße für Förderschulen an – das Ende für viele wohnortnahe Förderschulen. De facto blieben behinderte Kinder zunehmend ungefördert, und sie kamen oft auch unerkannt in den weiterführenden Schulen an (Lehrerjargon: ›U-Boote‹) – hochgradig entmutigt und dadurch häufig auch stark verhaltensauffällig.

Einheitsschulen sind ein sozialistischer Traum. Jeder Mensch besitzt jedoch individuelle Veranlagungen, benötigt somit die für ihn passende Schule, um das vorhandene Potenzial zur vollen Blüte zu bringen. Wohin würde sich in Ihren Augen Deutschland langfristig bewegen, wenn an der Inklusion festgehalten wird?

Felten: Tatsächlich hat Deutschland grundsätzlich gute Erfahrungen mit seinem Schulsystem gemacht: in den ersten Schulbesuchsjahren weitgehend Gemeinsames Lernen, mit wachsendem Alter dann Schulen unterschiedlicher Lernniveaus, die aber zueinander durchlässig sind – so entsteht eine lernförderliche gemäßigte Heterogenität, aber keine unüberbrückbaren Leistungsspannen. Inklusion zielt dagegen nicht nur auf den Abbau beziehungsweise Wegfall von Förderschulen, sondern auch auf die Etablierung des weitergehenden Prinzips „Eine Schule für alle“, über die gesamte Schulpflichtzeit. Dabei differenzieren andere Länder mit integrierten Schulsystemen auch – nur verdeckter. So gehen zwar in Schweden 95 Prozent eines Jahrgangs auf ein ‚Gymnasium‘ – aber davon gibt es 17 verschiedene Typen, eines eher auf dem Level eines Elitekollegs, ein anderes auf dem einer Brennpunkt-Hauptschule.

Der ehemalige Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern, Matthias Brodkorb, sprach vom »Kommunismus für die Schule«. Was meinte er damit?

Felten:
Dieses Bild charakterisiert die radikale Variante von Inklusion – wenn Regelschulen alle behinderten Kinder aufnähmen, müssten sich im Endeffekt alle Schulformen zugunsten einer nationalen Gesamtschule auflösen, ja man müsse letztlich auf jede Form objektiver Leistungsstandards verzichten. Dieser Totalversion gab Brodkorb keine Chance – er plädierte für gemäßigte Inklusion: Möglichst viele Kinder durch möglichst gut individualisierte Hilfen auf ihrem Entwicklungsweg unterstützen, ob nun an separaten Förderschulen beziehungsweise -klassen oder in integrativen und differenzierenden Regelschulen. Otto Speck hat dafür ja die Formel dual-inklusiv geprägt: Die Entwicklungsbedürfnisse aller Kinder – solcher mit Beeinträchtigungen und solcher ohne – in einem dynamischen Verbund von Regel- und Förderschulen zu wahren, das schaffe in zweifacher Weise förderliches Aufgehobensein.

Inklusion ist in den zurückliegenden Jahrzehnten eigentlich noch nie ein Thema gewesen, da behinderte Menschen – beispielsweise mit einer Geh- oder einer leichten Hörbehinderung – schon seit jeher auf „normale“ Schulen gehen beziehungsweise ihre Berufsausbildung in einem „normalen“ Unternehmen machen. Unter welchen Umständen würde dies generell für alle Behinderten funktionieren?

Felten:
Schüler mit rein körperlichen Einschränkungen können ja die gleichen Lernziele wie Regelschüler erreichen, sofern zusätzliche Hilfsmittel oder Assistenzen gesichert sind. Hingegen müssten Schüler mit Lernbehinderungen oder Einschränkungen der geistigen Aktivität in einer Regelklasse auf eigene Ziele hin lernen – dies erfordert aber (wie in den früheren Schulversuchen zur Integration gezeigt) einen permanent verfügbaren, sonderpädagogisch ausgebildeten Zweitlehrer sowie zusätzlichen Räumlichkeiten. Auch Schüler mit starken psychischen Traumen (früher: verhaltensauffällig, heute: verhaltenskreativ) benötigen häufig eine spezifische ergänzende personelle Betreuung.

Ist dies realistisch?

Felten:
Wir haben ja heute schon zu wenig Lehrer – und darüber hinaus befürchte ich, dass tatsächlich niemand diese gewaltigen Mehrkosten wird aufbringen wollen.

Das Recht auf Bildung ist ein allgemeines Menschenrecht. Doch was ist damit eigentlich gemeint? Sagt dieses Recht aus, dass Menschen gemäß ihrer Leistungsfähigkeit bestmöglich ausgebildet werden müssen?

Felten:
Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte markiert zunächst den Anspruch auf unentgeltliche und allgemein verfügbare, den Fähigkeiten entsprechende Bildung – wobei den Eltern beim Bildungsweg ein Wahlrecht zugestanden wird. Die BRK spezifiziert dies noch einmal dahingehend, »Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen«.

Das Credo der damaligen Landesregierung von Nordrhein-Westfalen lautete: Nur unter nichtbehinderten Schülern können sich behinderte Kinder gut entwickeln. Was antworten Sie auf diese These?

Felten:
Als Generalaussage ist das sicher gefährlicher Unsinn – schon gar nicht profitieren behinderte Schüler, wenn sie an einer Regelschule weniger Unterstützung bekommen als an der früheren Förderschule. Richtig ist, dass behinderte Schüler im Einzelfall von gemeinsamem Lernen und den Anregungen Nichtbehinderter profitieren können – wenn es sich um ein sonderpädagogisch optimal justiertes Setting handelt.

Werden die Rechte von nichtbehinderten Schülern missachtet, die gezwungen werden, zusammen mit einem behinderten Mitschüler zu lernen, dessen Konzentration und Lernleistung erheblich beeinträchtigt ist?

Felten:
Alle Schüler, ob mit oder ohne Behinderung, haben ein Recht auf störungsarmen Unterricht und angemessene Förderung. Dazu braucht es aber insbesondere genügend Lehrer – und gerade auch Sonderpädagogen. Mir ist schier unbegreiflich, dass viele Kultusminister die Eltern von behinderten Kindern in neue Beschulungskonzepte gelockt haben, ohne zuvor das dafür nötige Personal einzuwerben und auszubilden! Ein Begriff wie ‚Verelendungsstrategie‘ drängt sich auf – aber vielleicht ist es auch einfach das Prinzip „Nach mir die Sintflut“?

Kann es sein, dass politische Entscheidungsträger beim Thema ›Inklusion‹ eine Art Menschenversuch durchführen?

Felten:
Großflächige Erprobungen neuer Medikamente oder Technologien gelten als ethisch und rechtlich unbedenklich, wenn einsichtsfähige Versuchspersonen dem Experiment freiwillig zustimmt haben und umfassend über mögliche Folgen aufgeklärt wurden. Das ist beim Thema Inklusion sicher nicht ausreichend geschehen: Man hat etwa in NRW mit den guten Erfahrungen von integrativen Modellschulen für eine Sparvariante geworben und die Stimmen kritischer Experten vom Tisch gewischt. Und wo Förderschulen im Hauruckverfahren geschlossen wurden, konnte für Eltern behinderter Kinder von Freiwilligkeit keine Rede mehr sein.

Ob Behinderung oder Begabung – beide Fälle werden in einer Volkswirtschaft benötigt, damit diese am Laufen gehalten wird. Nicht jeder kann Professor sein, wir brauchen aber auch Menschen, die unseren Dreck von der Straße wegräumen oder Bauteile eintüten. Ist der Politik der Kompass für eine gesunde Schulpolitik verloren gegangen?

Felten:
Einerseits braucht unser Land heute tatsächlich mehr Höherqualifizierte als noch vor Jahrzehnten. Andererseits hat sich eine Überschätzung akademischer und Unterschätzung praktischer Tätigkeiten ergeben, auch infolge eines kurzschlüssigen Gerechtigkeitsdenkens, einer Scham Unterschiede anzuerkennen. Die Schweiz hat eine Abiturquote von „nur“ 21 Prozent – aber dafür hat die Wirtschaft auch kein Problem, genügend Auszubildende zu finden – eine berufliche Ausbildung gilt dort eben nicht als Abstieg.

Was sagen eigentlich die betroffenen Schüler beider Gruppen zu der ihnen aufgezwungenen Inklusion?

Felten:
In einer Langzeitdoku der ZEIT beschwerte sich etwa der Bremer Gesamtschüler Kornelius schon in der 7. Klasse, dass die Klasse in Englisch total hinterher hänge. »Die Lehrer müssen ja auch immer alles zigmal erklären.« Später sagte er, es wäre ihm lieber, man würde die Inklusionsschüler wieder getrennt unterrichten – irgendwann kämen ja auch Abschlussprüfungen, und gemeinsam lernen würden sie wegen unterschiedlicher Aufgabenniveaus sowieso nicht mehr. Von vielen Förderschülern hingegen wissen wir etwa, dass sie in der Inklusion das Anderssein stärker schmerzt als bei separatem Unterricht, dass sie ab der Pubertät in Regelklassen oft vereinsamen.

Die Statistik ist ein beliebtes Rechtfertigungsmittel um politische Weichenstellungen argumentativ zu untermauern. Werden die „Erfolge“ der Inklusion frisiert?

Felten:
Ja natürlich – wenn Ideologie im Spiel ist, gibt‘s immer Scheuklappen, wird Unerwünschtes unter dem Teppich gehalten. Ein diesbeuügliches, interessantes Beispiel ist etwa die Begleitstudie zum Rügener Inklusionsmodell (RIM). Dort wurden in einem großflächigen Schulversuch Daten über die Wirksamkeit inklusiver Beschulung bis in die Sekundarstufe erhoben. Aber die Forschungsbefunde wurden in Administration wie Presse beschämend schöngefärbt, nur bei der Gewerkschaft war von unzumutbarer Lehrerbelastung die Rede. In der Sekundarphase wurde dann auf eine Kontrollgruppe schon vorab verzichtet – über die Förderschüler hieß es lediglich, sie hätten hinzugelernt. Auch anderes darf man kritisch lesen. Das Forscherteam der Längsschnittstudie ›BeLieF‹ räumte im Kleingedruckten ein, der festgestellte Leistungsvorsprung inklusiv beschulter LE-Schüler sei womöglich nur Folge davon, dass die beteiligten Inklusionsschüler relativ leistungsstark seien – bei flächendeckendem Einsatz liessen sich die behaupteten ‚Vorteile‘ vermutlich nicht halten.

20 Aachener Förderschulleiter hatten sich 2013 in einem offenen Protestbrief über Personalmangel beklagt. Sie mussten mit einer Unterbesetzung von bis zu 15 Prozent zurechtkommen, da Sonderpädagogen vorrangig an Inklusionsschulen abgeordnet wurden. Die Reaktion war, dass der zuständige Schulamtsdirektor von der Bezirksregierung suspendiert wurde und die Schulleiter zu einem dienstlichen Mahnungsgespräch antreten mussten. Wie werten Sie diesen Skandal?

Felten:
Es hat damals viele Beobachter erschreckt, dass auch Grüne das Prinzip ›Maulkorb‹ anwenden. Schulministerin Löhrmann hat in NRW eben versucht, ein Sparmodell von schulischer Inklusion brachial durchzusetzen – und wenn ein Projekt so labil ist, kann man Kritiker einfach nicht gebrauchen. Es wurden auch Schulleiter von Regelschulen durch Vorgesetzte genötigt, sich nicht auf kommunalen Podiumsdiskussionen zu problematischen Seiten des Inklusionsprozesses zu äußern. Mir selbst wurde nach meiner Pensionierung trotz Personalmangels eine Weiterbeschäftigung verwehrt; mein Buch ›Inklusionsfalle‹ und die Website www.inklusion-als-problem.de hatten die Misere offen angesprochen und womöglich zum erdrutschartigen Verlust der Landesregierung beigetragen – da musste anscheinend ein Denkzettel sein.

Wie bei der Energiewende wurden Stimmen aus der Wissenschaft geflissentlich überhört, die vor der Inklusion warnten. In einer Demokratie dürfte dies nicht sein. Haben Sie Vorschläge, wie künftig solche Entscheidungen mit großer Tragweite demokratieverträglich zu handhaben wären?

Felten:
In unserem Land hängen politische Entscheidungen ja von der für einige Jahre gewählten Parteienmehrheit ab. Und Regierungen können Ihnen unliebsame fachliche Expertise durchaus ausblenden. Aber der Bürger kann seine Obrigkeit auch wieder abwählen. Deshalb ist eine freie Presse so wichtig – denn ihr obliegt es, die Bevölkerung hinreichend und vielfältig zu informieren. Heute allerdings bilden die Verflechtungen von Macht, Medien und Moral dabei ein gewisses Hemmnis.

Wie ist denn nun Ihre Perspektive in Sachen Inklusive Bildung?

Felten:
Die Anfangseuphorie vieler Befürworter ist verschwunden, man hat gemerkt, dass eine verantwortbare Integration behinderter Schüler sehr aufwändig und schwierig ist – und manchmal noch nicht einmal der beste Weg. Familienministerin Giffey hat deshalb den Förderschulsektor rehabilitiert – dort werde etwas ermöglicht, »das an der normalen Schule nicht möglich ist«. Der ehemalige Bildungsstaatssekretär des Saarlandes hat übrigens präzise dargelegt, dass ein totaler Wegfall von Förderschulen auch verfassungsrechtlich unhaltbar wäre. Die Devise muss also heißen: So viel wie möglich gemeinsam, so viel wie nötig nebeneinander - eben: dual-inklusiv. Gleichwohl sind in NRW, Bremen oder Berlin bereits wichtige Förderstrukturen zerstört worden, darunter leiden Lehrer wie Schüler weiterhin, selbst nach offiziellem Umsteuern. Wer sich wirklich für die Inklusion einsetzen möchte, sollte vor allem eines tun: nachhaltig für den wunderbaren Beruf des Lehrers werben – insbesondere den des Sonderpädagogen. Phrasen und Papiere helfen keinem weiter – nur mit mehr Lehrkräften wird mehr Inklusion möglich sein.

Herr Felten, vielen Dank für das Interview.

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Dieses Interview finden Sie auch in Ausgabe 3/2021 auf Seite 16. Zum besagten Heft führt ein Klick auf den nachfolgenden Button!

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