Ein Genozid, der sprachlos macht
Ein Tätervolk und seine Opfer
Von der Türkei, Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches, wird der Völkermord an den Armeniern, der während des 1. Weltkriegs stattfand, vehement bestritten. Michael Hesemann weist in seinem Buch anhand im Vatikan gefundener Dokumente jedoch zweifelsfrei nach, dass diese Ungeheuerlichkeit mitnichten eine Begleiterscheinung des Krieges und schon gar nicht die Folge angeblicher Aufstände der Armenier war.
Ungeheuerliche Taten haben gute Chancen unentdeckt zu bleiben, wenn interessierten Kreisen daran gelegen ist, diese geräuschlos im Dunkel der Geschichte verschwinden zu lassen. So geschehen bei den Massakern an den Ureinwohnern Süd-, Mittel- und Nordamerikas oder beim millionenfachen Hungermord an verschiedenen Völkern, wie etwa am Volk der Bengali, an Ukrainern oder an den Ibos.
Auch die Türkei beschreitet den Weg des Vergessens und hofft, dass der Massenmord an den christlichen Armeniern, die damals in Ostanatolien lebten, dem Vergessen anheim fällt.
Dazu wird die Türkei nicht müde zu erzählen, dass die damaligen Akteure mitnichten einen geplanten Genozid befahlen, sondern sich lediglich der Aufstände der Armenier erwehrten. Sie verlangten sogar, dass das Thema an deutschen Schulen nicht im Geschichtsunterricht behandelt wird. Deutsche Politiker, vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel, haben kein Interesse an einer Aufarbeitung des Themas, an dem damals auch Deutschland eine wichtige Rolle spielte, wie Michael Hesemann in seinem Buch klarstellt. Eine Ungeheuerlichkeit, die ein bezeichnendes Licht auf den Charakter und die politische Moral der handelnden Personen in den beteiligten Staaten wirft.
Geplanter Massenmord
Wie im Buch ›Völkermord an den Armeniern‹ in erschütternden Details erzählt wird, handelt es sich bei diesem Treiben um einen geplanten Massenmord. Das Ziel sollte sein, den Anteil an Christen massiv zu reduzieren. Schon der Sultan des Osmanischen Reiches, Abdülhamid II, hatte damit begonnen, das Armenische Volk gezielt auszurotten. Der britische Konsul von Erzurum sprach bereits 1890 von einem »Prozess zur Vernichtung der christlichen Bevölkerung«. Es gab in der Herrschaftszeit Abdülhamids viele Übergriffe auf Armenier. Zum Beispiel fielen am 19. August 1894 Hamidiye-Einheiten über verschiedene Dörfer Sassuns her, wobei in dem drei Wochen dauernden Gemetzel je nach Quelle zwischen 8000 und 16000 Armenier getötet wurden.
Dabei wurden ungeheuerliche Grausamkeiten begangen, die man zunächst nicht glauben kann. So wurde zum Beispiel von einer Augenzeugin berichtet, dass Soldaten bei einer toten Schwangeren wetteten, welches Geschlecht das Kind in ihrem Leib wohl hätte. Mit dem Bajonett wurde der Bauch aufgeschlitzt und der Fötus herausgeholt. Männern wurden die Genitalien abgeschnitten und in den Mund gestopft. Einem Priester wurden die Augen ausgestochen und anschließend gezwungen, vor den Soldaten zu tanzen. Eine Mutter wurde von einer Kugel getroffen und das von ihr im Arm gehaltene Kind von einem Soldaten mit dem Bajonett aufgespießt und in die Höhe gehoben. Dass die Zahl der Opfer damals nicht größer war, ist nur dem Umstand zu verdanken, dass es vielen gelang, in die Berge zu flüchten.
In den Hauptstädten Europas war die Empörung über die Vorgänge im Osmanischen Reich groß. Den Sultan kümmerten die Protestnoten nicht. Für ihn stand die „endgültige Lösung“ des „Armenierproblems“ im Vordergrund. In einem britischen Botschafterbericht vom März 1896 wurden 88243 tote Armenier, 2400 geplünderte Dörfer, 568 zerstörte Kirchen, 328 zu Moscheen umgenutzte Kirchen und 646 zwangsislamisierte Dörfer gezählt.
Die Aussage der heutigen Türkei, dass damals lediglich auf Aufstände der Armenier reagiert wurde, ist somit klar widerlegt, da die Armenier bereits weit vor dem 1. Weltkrieg gezielt verfolgt und massakriert wurden. Die dem Sultan nachfolgenden „Jungtürken“ vollendeten lediglich die begonnene Barbarei. Zudem: Warum wurden zum Islam konvertierte Armenier nun nicht mehr verfolgt? Auch dies ein klarer Hinweis darauf, dass die Aufstands-Theorie lediglich eine faustdicke Lüge der heutigen Türkei ist.
Die Jungtürken waren Rassisten wie die Nationalsozialisten. Sie träumten von einer „neuen Zivilisation“. Ihr Ziel war es, die Turkvölker von Fremdherrschaft zu befreien und ein Reich zu errichten, das von der Adria bis nach China reicht. Sie nutzten den 1. Weltkrieg, um zunächst im eigenen Land mit Minderheiten, insbesondere den Armeniern „aufzuräumen“. Ab 1915 wurden diese gezielt vernichtet. Dazu wurde die Propagandamaschine angeworfen.
Armenier waren nun Schuld am Niedergang des Osmanischen Reiches, wurden als „Ausbeuterrasse“ und „Parasiten“ bezeichnet, die auf Kosten der Türken leben. ›Die Türkei den Türken‹ war die Leitidee von Talaat Bey, dem bis 1917 amtierenden Innenminister des Osmanischen Reichs. Interessant ist, dass sogar die Kampagne ›Kauft nicht bei Armeniern!‹ gestartet wurde, was an das 3. Reich erinnert.
Obwohl Armenier im 1. Weltkrieg tapfer Seite an Seite mit den Türken als Soldaten in der osmanischen Armee kämpften, wurde diese verdächtigt, an den Niederlagen an der Front verantwortlich zu sein. Sie wurden mit denjenigen Armeniern in einen Topf geworfen, die jenseits der Osmanischen Grenze wohnten und an der Seite der Russen gegen das Osmanische Reich kämpften. Brachen bei den Soldaten Krankheiten aus, hieß es, dass armenische Soldaten oder Bäcker die Verpflegung vergiftet hätten.
Die „Dolchstoßlegende“ vom „christlichen Verrat“ machte daraufhin die Runde. Doch nicht nur christliche Armenier, sondern auch Christen anderer Nationen waren nun dieser Stimmung unterworfen. So wurden 1,185 Millionen Griechen vertrieben und 500.000 ermordet. Angesichts dieses „Erfolgs“, der zudem keine Proteste des Auslands auslöste, wurden die Jungtürken mutiger und entschlossen sich, ebenso gegen andere Minderheiten vorzugehen und „das Land von nichtmuslimischen Tumoren“ zu befreien.
Der Generalsekretär des ›Komitees für Einheit und Fortschritt‹, Dr. Selanikli Mehmed Nazim Bey, soll im März 1915 auf einer Sitzung gesagt haben, dass es dringend notwendig sei, das armenische Volk auszurotten. Man befände sich jetzt im Krieg, und es gäbe keine günstigere Gelegenheit als diese. In den kommenden Monaten wurden armenische Soldaten, die damals bereits aus der kämpfenden Truppe entfernt wurden, massenweise erschossen. Überall wurden Armenier entwaffnet und unter Folter nach Waffen gefragt. Der Masterplan für die Vernichtung der Armenier wurde in vielen kleinen Etappen umgesetzt.
Dorf für Dorf wurden die Armenier in den kommenden Monaten aufgefordert, sich auf eine Deportation vorzubereiten. Gerade einmal ein oder zwei Tage, manchmal nur wenige Stunden zuvor wurden diese darüber informiert und mussten in dieser kurzen Zeit ihre ganze Habe verkaufen, was für die türkische Bevölkerung der Dörfer jedes Mal zum Schnäppchenfest wurde. Wer sich den Anordnungen widersetzte, wurde sofort erschossen oder aufgehängt. Allerdings konnte bleiben, wer sich sofort zum Islam bekennt.
Anfangs unternahm die Regierung alles, um die Deportierten in Sicherheit zu wiegen. Sehr bald mutierten die bewaffneten Gendarmen, die als „Beschützer“ den oft mehrere tausend Personen umfassenden Konvoi begleiteten, zu Sklaventreibern, die Schwächere unbarmherzig mit dem Bajonett zum Weitergehen antrieben. Sogar Schwangere mussten sofort nach der Geburt mit dem noch feuchten Kind im Arm weiterlaufen.
Schande über alle
Ungeheuerlich ist zudem, dass nicht nur ein verbrecherisches Regime sich bei diesem Genozid schwere Schuld auflud, sondern auch die dort lebende Bevölkerung, was in der Geschichte der Menschheit wohl beispiellos ist. Wenn der Konvoi ein Dorf passierte, wurde dieser ausgeraubt. Die dort lebenden Kurden und Türken wurden vorab über das Eintreffen der Armenier informiert und verschleppten junge Frauen in Bergdörfer oder zwangen sie zur Prostitution. Es wurde nach Schmuck und Geld gesucht und nicht selten sogar die Kleider eingefordert. Die letzten Lebensmittel waren abzugeben und die Nacht musste bei klirrender Kälte im freien verbracht werden. Wer sich dem widersetzte, wurde unbarmherzig massakriert.
Dieses Verbrechen wiederholte sich in jedem Dorf. Den eigentlichen Bestimmungsort erreichten nur sehr wenige Menschen. Sie wurden entweder ermordet oder starben an Entkräftung. Die Wege zum Ziel waren mit Leichenbergen übersät, der Gestank der verwesenden Leichen unerträglich. Gegen Ende 1916 war der Genozid an den Armeniern praktisch beendet. Lediglich um die 350000 Menschen hätten die Massaker und die Todesmärsche durch Flucht in die Berge überlebt.
Je nach Quelle wird heute von ein bis zwei Millionen Opfern ausgegangen, die dieser Wahnsinn mit Hilfe der dort lebenden Bevölkerung forderte. Werden alle Opfer dazugerechnet, kommt man sogar auf 2,5 Millionen Tote, die die größte Christenverfolgung der Geschichte forderte. Eine Abscheulichkeit, die niemals vergessen werden darf. Das Buch ›Völkermord an den Armeniern‹ ist ein mahnendes Beispiel dafür, dass schwerste Verbrechen durchaus im Dunkel der Geschichte verschwinden können, wenn sich keine mutigen Autoren finden, grelles Licht auf die Wahrheit zu richten. Es befremdet, dass diese Gefahr überhaupt gegeben ist, da dieser Massenmord sprachlos macht.
Das Buch ist nicht zuletzt all denjenigen wärmstens empfohlen, die sich umfassend über die Parallelen des 3. Reichs und dem Armenier-Genozid informieren möchten. Es dient auch dazu, die aktuelle Politik der Türkei sowie die Absichten und Handlungsmuster des Islam zu verstehen. Wer das Buch gelesen hat, wird wohl nicht mehr mit unserer Bundeskanzlerin übereinstimmen, dass der Islam zu Deutschland gehört.
Großer Dank gebührt dem Autor sowie dem Verlag, denn so ein Buch zu schreiben, beziehungsweise herauszugeben ist mit großen Risiken verbunden, wie nicht zuletzt der Überfall auf die Redaktion der Satirezeitschrift ›Charlie Hebdo‹ zeigt. Wenn es dazu führt, dass dieser Genozid nie mehr Gefahr läuft, vergessen zu werden und womöglich in der einen oder anderen türkischen Stadt Mahnmale zur Erinnerung an dieses Unrecht errichtet werden, so hat sich der Einsatz mehr als gelohnt.
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Interview
Yuliya Tkachova interviewt den Historiker Michael Hesemann, Autor des Buches „Völkermord an den Armeniern“
Herr Hesemann, Sie nahmen an der Gedenkfeier des Papstes für die Opfer des Völkermordes an den Armeniern im Petersdom teil. Was war Ihr Eindruck?
Hesemann: Es war eine wirklich würdige Feier, die sich über drei Stunden erstreckte und etwas widerspiegelte von dem, was der Papst bereits als „Ökumene des Blutes“ bezeichnet hat: Die drei Patriarchen, der Katholikos von Etchmiadzin, der Katholikos des Hohen Hauses von Kilikien und der Patriarch der armenisch-katholischen Kirche nahmen teil, außerdem der Präsident der Republik Armenien, um an die Toten der größten Christenverfolgung der Geschichte zu erinnern. Die herrlichen Gesänge des armenischen Chores, die prachtvollen Gewänder der armenischen Bischöfe und die Schönheit der armenischen Sprache spiegelten etwas wieder vom uralten Erbe und geistlichen Reichtum dieser ersten christlichen Nation der Erde – ein Erbe, das die Türken 1915 fast ausgelöscht hätten.
Schon in seinen Einführungsworten ließ Papst Franziskus „die Bombe platzen“ und nannte mit der Klarheit und Offenheit, für die er bekannt ist, die Ereignisse vor hundert Jahren, an die man erinnern wollte, einen „Völkermord“. Ich war unendlich erleichtert in diesem Augenblick. Denn die Worte des Papstes markierten den Sieg der Wahrheit über die Diplomatie. Seit Monaten hatte die Türkei nichts unversucht gelassen, um dies zu verhindern. Es war ja in allen Ankündigungen lediglich vom „Martyrium des armenischen Volkes“ die Rede, was ein korrekter Begriff, aber eben auch politisch unverfänglich war, und so waren wir doch alle gespannt darauf, was der Papst sagen würde. Und ich muss sagen: Er hat sich richtig entschieden und damit Mut gezeigt und Größe bewiesen! Noch einen Tag später, bei der Frühmesse im Domus S. Marthae, erklärte Franziskus dazu, dass es die Pflicht des Christen sei, die Dinge beim Namen zu nennen.
Doch ich schämte mich in diesem Moment auch, denn ich bin ja nicht nur Katholik, sondern auch Deutscher. Und ausgerechnet die deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl, Frau Annette Schavan, glänzte an diesem Morgen durch Abwesenheit. Das war definitiv das falsche Signal, gerade weil wir Deutschen schon vor hundert Jahren bewusst weggeschaut haben, um die Türken als Verbündete im Ersten Weltkrieg nicht zu verlieren. Ich denke, dass Frau Schavan da nicht aus eigenem Antrieb gehandelt hat, sondern auf Weisung aus Berlin, was natürlich ihr Versäumnis zum Politikum macht. Das war ein sehr trauriges Bild!
Sie haben selber im Vorfeld zu dieser Bewertung beigetragen indem Sie im Vatikanarchiv zu den Ereignissen von 1915, die dort als „Verfolgung der Armenier“ gelistet sind, recherchierten. Schildern Sie uns kurz, wie Sie dazu kamen!
Hesemann: Ich bin als Historiker für die „Pave the Way Foundation“ in New York tätig, die sich um die Aussöhnung von Juden und Christen bemüht. So bestand meine Aufgabe im Geheimarchiv eigentlich darin, alle Aspekte des Wirkens von Eugenio Pacelli zu untersuchen, der 1939 zum Papst gewählt wurde und sich Pius XII. nannte. Bekanntlich ist sein Umgang mit dem Holocaust noch heute Thema unzähliger Debatten und wir wollten einfach die Hintergründe dafür erfahren. Pacelli war von 1917 bis 1925 Nuntius in München, danach in Berlin.
Und in den Akten der Apostolischen Nuntiatur in München stieß ich auf einen Ordner mit der Aufschrift „Verfolgung der Armenier“. Darin befand sich ein Brief des Kölner Erzbischofs Kardinal von Hartmann an den damaligen Reichskanzler Graf Hertling – ein flammender Appell an die Reichsregierung, endlich Druck auf die Türken auszuüben, das Morden an den Armeniern, das Kardinal von Hartmann mit den Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte der Kirche verglich, zu beenden. Ich kannte von Hartmann als sehr konservativen, kaisertreuen Kirchenmann, was seine Worte umso unerwarteter machte. Das machte mich neugierig. In der Akte befand sich dann auch die Kopie eines Briefes, den Papst Benedikt XV. an den Sultan schrieb.
Ich recherchierte, welche Historiker darüber schon gearbeitet hatten, und stellte fest, dass die Initiative des Papstes allenfalls in Randnoten erwähnt wurde. So begann ich, immer tiefer zu „graben“, bis ich schließlich rund 2500 Seiten bislang unveröffentlichter Dokumente einsehen konnte, die mir ein ziemlich vollständiges Bild der Ereignisse von 1915 vermittelten. Es sind erschütternde Zeugnisse von unmenschlicher Gewalt und erbarmungsloser Brutalität, die einfach nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Sie wurden zur Grundlage meines Buches „Völkermord an den Armeniern“, das in diesem März erschien. Noch im gleichen Monat ließ ich es dem Papst und einigen wichtigen Kardinälen zukommen.
Was war Ihre wichtigste Entdeckung?
Hesemann: Dass tatsächlich ein Plan existierte, alle nichtmuslimischen Minderheiten im Osmanischen Reich zu vernichten. Auslöser war nicht etwa, wie man denken könnte, muslimischer Fanatismus oder der Dschihad, der Heilige Krieg, der im November 1914 offiziell ausgerufen wurde, im Gegenteil: Der Islam war nur zur Rechtfertigung und Durchführung dieses Planes instrumentalisiert worden, genau wie der Plan, den Dschihad auszurufen, aus Berlin stammte – man hoffte, damit die 300 Millionen Muslime gegen Briten und Franzosen zu vereinen und zu Verbündeten der Achsenmächte zu machen. Die damalige jungtürkische Regierung berief sich eher auf den europäischen Nationalismus, das Konzept, ein starker Staat müsse homogen sein.
So sah man in der religiösen und ethnischen Vielfalt des Osmanischen Reiches den Grund für seine Schwäche. Als das Reich dann noch die Balkanprovinzen verlor, weil die dortigen christlichen Völker, unterstützt vor allem durch Russland, nach Unabhängigkeit strebten, sah man sich zum Handeln gezwungen. Alle Minderheiten galten als politisch unzuverlässig, als potenzielle Verschwörer, derer man sich erledigen wollte, um den Rest der Türkei „für die Türken“ zu retten. So wurde die Zahl der Christen in der Türkei von 19 % im Jahre 1914 auf heute 0,2 % reduziert. Teil dieses Planes war der Völkermord an den Armeniern: eine bis dahin beispiellose ethnische und religiöse „Säuberung“ des Landes, eine Homogenisierung der Türkei, ihre Umwandlung zu einem islamischen Nationalstaat.
Die Türkei hat den Papst heftig angegriffen, weil er den Begriff „Völkermord“ benutzte, sprach gar von „Rassismus“ und „Geschichtsfälschung“. Man behauptet nach wie vor, es hätte nie einen Plan zur Ausrottung der Armenier gegeben, lediglich habe eine kriegsnotwendige Umsiedelung stattgefunden. Was sagen Sie dazu?
Hesemann: Nach türkischer Logik ist es also kein Rassismus, eine ethnische und religiöse Minderheit zu vernichten, aber es ist rassistisch, ein solches Verbrechen beim Namen zu nennen? Das ist doch absurd! Tatsächlich erklärte der türkische Innenminister Talaat Bey schon 1915 dem deutschen Botschaftsmitarbeiter Johann Mordtmann in aller Offenheit, dass seine Regierung „den Weltkrieg dazu benutze, um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen aller Konfessionen – gründlich aufzuräumen, ohne durch diplomatische Interventionen des Auslandes gestört zu werden.“ Das deckt sich völlig mit den Informationen der Gewährsleute des Vatikans.
„‘Armenien ohne Armenier‘ – das ist der Plan der osmanischen Regierung“, berichtete der Generalabt des Mechitaristenordens, Msgr. Ghiurekian, Papst Benedikt XV. am 30. Juli 1915. Vom „Werk der Jungtürken, ermutigt durch die Unterstützung der Deutschen“ spricht der armenisch-katholische Erzbischof von Chalcedon, Msgr. Peter Kojunian, in seinem Schreiben an Papst Benedikt XV. vom 3.9.1915: „Zu den Schrecken des derzeitigen Krieges, die das väterliche Herz Eurer Heiligkeit erschüttern, gehört nicht zuletzt das Massaker an den Armeniern der Türkei, das von der türkischen Regierung angeordnet und zum größten Teil bereits ausgeführt wurde. (…) (Es ist) eine systematische Vernichtung der Armenier in der Türkei.“ Der Superior des Kapuzinerordens in Erzurum, der österreichische Pater Norbert Hofer, schrieb im Oktober 1915 an den Vatikan: „Die Bestrafung der armenischen Nation (für angebliche Aufstände, d.Verf.) ist bloß ein Vorwand der freimaurerischen türkischen Regierung, um alle christlichen Elemente im Land ungestraft vernichten zu können.“ Und sein Landsmann und Ordensbruder, der österreichische Kapuzinermissionar Michael Liebl, brachte in Samsun in Erfahrung: „Nicht die Armenier, die Christen wurden (zum Tode) verurteilt auf einer geheimen Konferenz der Jungtürken vor 5 oder 6 Jahren in Thessaloniki.“
Die Türken dagegen behaupten, die „Umsiedelungen“, bei denen freilich 80 % der Deportierten auf endlosen Todesmärschen ums Leben kamen, hätten der Prävention von Aufständen gedient, denn die Armenier hätten sich heimlich mit den Russen verbündet. Warum aber wurden dann die jeder Verschwörung unverdächtigen Katholiken, aber auch aramäische und assyrische Christen gleichermaßen in den Tod geschickt? Warum wurden Armenier aus Gebieten deportiert, die viel weiter von der russischen Front entfernt lagen als ihre vermeintlichen Bestimmungsorte? Warum trennte man gewaltsam die Männer von den Frauen, Kindern und Alten, um sie zuerst zu massakrieren? Warum wurden Frauen und Kinder, die zum Islam konvertierten, verschont, aber zwangsverheiratet oder auf dem Sklavenmarkt verkauft? Die türkische Schönrederei ist mit den Tatsachen nicht vereinbar!
Was hat der Vatikan damals unternommen, um diesen Völkermord zu verhindern?
Hesemann: Er hat alles Menschenmögliche versucht. Bereits im Juni 1915 trafen erste Berichte in Rom ein, im Juli wusste man von den Massakern, im August gab es das erste Gesamtbild. Zunächst bemühte sich der Apostolische Delegat in Konstantinopel, Msgr. Dolci, persönlich um eine diplomatische Intervention, dann, als man ihn abwimmelte, um die Unterstützung der Deutschen und Österreicher. Innenminister Talaat Bey versprach, die armenischen Katholiken zu verschonen und brach dieses Versprechen gleich am nächsten Tag.
Schließlich ergriff Papst Benedikt XV. im September selbst das Wort, verfasste ein Handschreiben an den Sultan, das in der Weltpresse großen Anklang fand. Fast zwei Monate lang verhinderten die Türken, dass Dolci es dem Sultan übergeben konnte, bis auch hier die deutsche und österreichische Botschaft zur Hilfe kamen. Als der Sultan nach weiteren vier Wochen endlich antwortete, waren die Deportationen längst abgeschlossen, stand man vor vollendeten Tatsachen.
So blieb dem Papst nur noch übrig, in einer Ansprache vor den Kardinälen festzustellen, dass „das unglückliche Volk der Armenier fast vollständig der Vernichtung zugeführt wird.“ Auch ein zweiter Versuch des Papstes, 1918 erneut zu Gunsten der Armenier zu intervenieren, blieb erfolglos – auch weil sich der deutsche Verbündete der Türken weigerte, Druck aus Konstantinopel auszuüben.
Sie reden von 1,5 Millionen Opfern des Völkermordes, die Türken sprechen von nur 300.000 Opfern von Überfällen, Krankheiten und Versorgungsengpässen. Wie können Sie Ihre Zahl belegen?
Hesemann: Durch die Dokumente, die ich einsehen konnte. Ein Bericht des armenisch-katholischen Patriarchats, der im Februar 1916 verfasst wurde, erwähnt bereits „beinahe 1.000.000“ Opfer, wohlbemerkt noch vor den Massakern in der syrischen Wüste, während der Kapuzinerpater Michael Liebl am 30. September 1917 konstatierte: „Von den 2,3 Millionen in der Türkei wohnenden Armeniern sind ein und eine halbe Million von den Türken ausgerottet worden.“ Von 1,5 Millionen Toten geht heute auch die seriöse Armenozid-Forschung aus.
Warum ist es so wichtig, ob es ein Völkermord war oder nicht?
Hesemann: Um dieser Kultur der Indifferenz entgegenzuwirken, die auch der Papst immer wieder anprangert. Auch heute finden Völkermorde statt, zum Teil sogar in den gleichen Regionen wie 1915/6, im Norden des Irak und Syriens, werden Christen massenhaft ermordet und die Welt schaut weg oder versäumt es zumindest, etwas zu unternehmen, um dieses Morden zu stoppen. Unser Wegschauen macht es erst möglich. So hat auch das Totschweigen des Armenozids, den ich als Urverbrechen des 20. Jahrhunderts bezeichne, spätere Völkermorde erst möglich gemacht, bis hin zum Holocaust.
„Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“, legitimierte Adolf Hitler seine diabolischen Pläne vor dem Einmarsch in Polen. Es muss ein klares Zeichen gesetzt werden, dass keine Nation der Welt der Verantwortung für ihre Verbrechen entkommen kann, auch nicht durch Drohungen und diplomatischen Druck. Und es wird Zeit, dass sich die Türkei endlich der historischen Wahrheit stellt und für die Verbrechen ihrer Väter Verantwortung übernimmt. Nur durch Bekenntnis und Reue sind Vergebung und Versöhnung möglich! Bis dahin werden wir immer wieder daran erinnert, dass die Wunden noch offen sind, auch nach hundert Jahren.
Michael Hesemann ist Historiker und recherchiert seit 2008 im Vatikanischen Geheimarchiv.
Mehr Informationen:
Titel: Völkermord an den Armeniern | |
Autor: Michael Hesemann | |
Verlag: Herbig | |
ISBN: 978-3-7766-2755-8 | |
Jahr: 2015 | |
Preis: 25,00 Euro | |
www.herbig.net |
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