Unser Schulsystem in der Klemme
Reformation ist längst überfällig
Der deutsche Bildungsföderalismus ist schuld, wenn Kinder nach dem Umzug ihrer Eltern in ein neues Bundesland sich in der neuen Schule nur schwer zurechtzufinden oder gar scheitern. In Ihrem Buch ›Der Abiturbetrug‹ legen Mathias Brodkorb und Katja Koch den Finger in die Wunde.
Es ist erstaunlich, dass es in Deutschland möglich war, eine bundesweit einheitliche Grundlage zu schaffen, Fahrschüler zu unterrichten und abzuprüfen. Ob Bayern, Berlin oder Hessen – nirgendwo gibt es Unterschiede hinsichtlich des Prüfungsniveaus. Überall werden die Prüfungsfragen aus einem einheitlichen Fragenkatalog generiert und den Prüflingen vorgelegt beziehungsweise werden einheitlich die Fähigkeiten der Fahrschüler im Umgang mit einem Fahrzeug geprüft. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass bundesweit eine Führerscheinprüfung auf gleichartigem, hohem Niveau stattfindet.
Ganz anders sieht es im Schulwesen aus. Hinter den Mauern jeden Bundeslandes wachen kleingeistige Regierungsverantwortliche eifersüchtig darüber, dass die Länderhoheit in Sachen Bildung keine Risse bekommt. Zu allem Überfluss haben sich Landesregierungen aufgemacht, aus politischem Kalkül das Niveau in den jeweiligen Schulen – insbesondere den Gymnasien – immer weiter zu senken, um den Anschein zu wecken, dass die eigene Politik Bildungsgerechtigkeit für alle herbeiführt.
Die Folge ist, dass das Abiturniveau höchst unterschiedlich ausfällt. Daher bekommen nicht wenige Abiturienten trotz geringerer, auf dem Papier jedoch aufgehübschter Qualifikation begehrte Studienplätze, die leistungsstärkeren, durch eine schwerere Abschlussprüfung auf dem Papier jedoch herabgestuften Abiturienten anderer Bundesländer verwehrt bleiben. Dadurch verlassen Schüler aus Bayern oder Mecklenburg-Vorpommern die Schule mit schlechteren Noten, haben dadurch ungünstigere Startbedingungen im Wettbewerb um soziale Positionen als etwa Bremer Schüler.
Kein Wunder, dass Mathias Brodkorb und Katja Koch ihr Buch ›Der Abiturbetrug‹ getauft haben. Sie heben hervor, dass die deutsche Abiturnote das Scheitern des Bildungsföderalismus zum Ausdruck bringt. Obwohl das Grundgesetz in Artikel 3 die staatlichen Organe dazu verpflichtet, die Bürger nach gleichen und sachlich begründeten Maßstäben zu behandeln, wird diese Pflicht in der Beschulung seit Jahrzehnten verletzt.
Wie die Steigerung der Abiturientenquote zeigt, ist das Schulsystem zum Spielball politischer Akteure geworden, die den Verfall des Abiturniveaus aus politischem Kalkül zu verantworten haben. In der Folge ersticken Universitäten an viel zu vielen Studenten, die in nicht geringer Zahl ihr Studium abbrechen. Unterdessen fehlen dem Mittelstand sowie dem Handwerk Fachkräfte, da viele junge Leute von der Politik auf einen für sie falschen Qualifizierungsweg gelockt wurden.
Auf der anderen Seite wird leistungsstarken Schülern in unverantwortlicher Weise die volle Aktivierung ihres Potenzials verwehrt, denn es kann beispielsweise in einem Mathematik-Kurs auch der beste Lehrer nicht die möglichen Fortschritte erreichen, wenn die besten Schüler zusammen mit denjenigen unterrichtet werden, die nur „irgendwie durchkommen“ möchten.
Die Autoren zeigen in ihrem Buch nachvollziehbar auf, was derzeit in Sachen ›Abitur‹ möglich ist, sodass auch schlechteste Schüler in bestimmten Bundesländern dieses bestehen können: In bis zu zwei Fächern darf die Prüfung schlechter bewertet werden als mit der Note ›Vier‹. Wenn die Fächer geschickt kombiniert wurden, können in den Fächern Mathematik und Deutsch in den letzten vier Schuljahren lauter Fünfen und in der Abiturprüfung sogar glatte Sechsen geschrieben werden, dennoch ist das Abitur bestanden! Lernfleiß lässt sich sogar durch eine App ersetzen, die es möglich macht, die Fächerbelegung, somit die Abiturnote komfortabel zu planen.
Im Buch wird klar herausgestellt, dass in der Bildungspolitik laufend Täuschungsmanöver erfunden und bildungspolitische Fakes ersonnen werden, um den Eindruck zu erwecken, an einer Lösung des Problems zu arbeiten. Die Wahrheit ist: der Bildungsföderalismus soll völlig unangetastet bleiben. Wie die Autoren im Buch anhand umfangreicher Recherchen beschreiben, wird der Weg zu einem Zentralabitur lediglich vorgegaukelt, um die Öffentlichkeit in dieser Sache zu beruhigen.
Um Bildungsgerechtigkeit zu bekommen, ist eine zentrale Bildungspolitik mit einem bundesweit einheitlichen Bildungskanon nötig. Dies würde bedeuten, dass jeder Schüler das gleiche Produkt zum gleichen Preis erhalten kann, zudem ein Schulabschluss überall die gleiche Wertigkeit besitzt.
Interessant ist, dass die Autoren erwähnen, dass Schulbuchverlage diese Idee nicht für gut halten. Sie argumentieren damit, dass die Entwicklung von Medien für sechzehn Bundesländer mehr Menschen Arbeit gibt, als die Entwicklung eines nationalen Lehrwerks. Eine Ungeheuerlichkeit, die zeigt, welche Kräfte wirksam sind, um ein einheitliches Schulwesen zu verhindern.
Ein weiterer Skandal ist ›Pisa‹. Lediglich bis zum Jahre 2006 wurde das Leistungsniveau der Neuntklässler länderweit überprüft. Insbesondere in denjenigen Bundesländern mit schlechten Leistungen gab es große Diskussionen. Seitdem nehmen in jedem Bundesland nur mehr so wenige Schüler an Pisa teil, dass keine aussagekräftige Stichprobe entsteht, weshalb die Ergebnisse wertlos sind. Die Ergebnisse von ›Vera‹ werden hingegen für die dritte und achte Jahrgangsstufe regelmäßig erhoben, die Daten jedoch unter Verschluss gehalten.
Die Autoren merken an, dass die Schule eine Botschafterin zwischen den Generationen und Epochen ist. Sie überliefert die relevanten Wissensbestände und die Kultur einer Gesellschaft an die nachfolgende Generation. Eine Gesellschaft ohne die kulturellen Bindekräfte eines kanonischen Wissens ist vom Zerfall bedroht. Daher ist ihr Buch so wertvoll, dies zu verhindern!
Mehr Informationen:
Titel: Der Abiturbetrug | |
Autoren: Mathias Brodkorb, Katja Koch | |
Verlag: zu Klampen Verlag | |
ISBN: 978-3-86674-616-9 | |
Jahr: 2020 | |
Preis: 16,00 Euro | |
www.zuklampen.de |
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