Erinnerung an den Arzt Dietrich Niethammer
Dr. Hontschik würdigt einen verstorbenen Kollegen
Mit Dietrich Niethammer ist im Februar 2020 ein weltbekannter Kinderonkologe verstorben. Dieser setzte sich gegen alle Widerstände dafür ein, Kindern und Jugendlichen einen ehrlichen Umgang mit Krankheit und Tod zu ermöglichen. Dr. Hontschik erinnert an diesen aufrecht gehenden Arzt.
Mitten in dieser lauten und düsteren Coronazeit ist im Februar 2020 der weltbekannte Kinderonkologe und ehemalige Leiter der Universitätskinderklinik Tübingen, Dietrich Niethammer, im Alter von 80 Jahren verstorben. Erst jetzt, nach eineinhalb Jahren, habe ich das zufällig erfahren. Seine wissenschaftliche Leistung mit hunderten von Fachartikeln über die Knochenmarkstransplantation, die er mit entwickelt hat, ist überragend. Aber in meiner Erinnerung wird er mir vor allem deswegen bleiben, weil er die Medizin verändert hat.
Als ich vor über vierzig Jahren meine chirurgische Ausbildung an einem großen Frankfurter Krankenhaus begann, erfuhr ich gleich während einer der ersten Visiten von einer Regel in der Chirurgie, die man nicht verletzen durfte: Schwerkranken Patienten gab man keine Auskunft über ihre Diagnose, schon gar nicht über ihre womöglich schlechte Prognose. Man redete stattdessen drumherum, benutzte ungenaue Formulierungen oder sagte gleich direkt die Unwahrheit. Ich fand das damals ganz normal, sozusagen menschlich und gnädig, aber mit der Zeit fiel es mir immer schwerer, meinen Patient:innen die Wahrheit vorzuenthalten.
Dann passierte etwas Schreckliches. Während einer Visite fragte ein Patient mit Magenkrebs den Chefarzt, wie denn seine Operation verlaufen sei. Der schaute in die Akte, sprach einige aufmunternde Worte und murmelte "extra muros" zu mir hin. Draußen sagte er, ich solle von "bösartigen Zellen" sprechen und dass der Tumor bei der Operation vollständig entfernt werden konnte – obwohl das Gegenteil der Fall war. Nach einer halben Stunde war die Visite vorbei und ich ging zu dem Patienten zurück.
Das Zimmer war leer. Das Fenster stand offen. Der Patient hatte sich aus dem 10. Stock gestürzt. Ich war entsetzt, fühlte mich schuldig. Ich hatte den Patienten allein gelassen. Von da an bin ich gegen alle Regeln bei der Wahrheit geblieben, wenn Patient:innen mich nach der Diagnose oder der Prognose gefragt haben, auch wenn mir das oft nicht leicht fiel. Denn die Wahrheit ist immer auch eine Chance, selbst wenn sie manchmal nur noch ganz klein ist. Gnädige Lügen gibt es nicht.
Und dann habe ich vor fast zwanzig Jahren auf einer Tagung Dietrich Niethammer zuhören dürfen. Er eckte damals bei seinen kinderärztlichen Kollegen an, weil er leidenschaftlich dafür eintrat, Kindern und Jugendlichen die Wahrheit über ihre Erkrankung, auch über den Tod nicht zu verschweigen. Er konnte uns zeigen, dass die vermeintliche „Rücksichtnahme“ nur dem Schutz der Erwachsenen dient, allerdings mit katastrophalen Folgen für die todkranken Kinder. Fast immer wussten die Kinder längst, wie es um sie stand, aber sie schwiegen, sie wollten die Erwachsenen schonen!
Mit erschütternden Fallgeschichten zeigte er, wie Unehrlichkeit den Kontakt zu den kranken Kindern und Jugendlichen stört und letztlich zerstört, wie diese sich immer mehr in sich selbst zurückziehen und einsam sterben müssen, ohne Halt in ihren Beziehungen.
Manchmal sind es die kleinen Veränderungen, die große Auswirkungen haben. Eine solche kleine Veränderung war der Umgang mit der Wahrheit in der Medizin. Der hat sich geändert, weil es Ärzte gab wie Dietrich Niethammer. Er wird allen, die ihn kannten, als einfühlsamer und vorbildlicher Kinderarzt in Erinnerung bleiben, der sich gegen alle Widerstände dafür einsetzte, Kindern und Jugendlichen einen ehrlichen Umgang mit Krankheit und Tod zu ermöglichen.
Mehr Informationen zu Dr. Hontschik:
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