Mitarbeiter zwischen den Mühlsteinen
Selbstorganisation überfordert oft
Die deutsche Wirtschaft, speziell die Industrie, steht seit Jahren in dem Spannungsfeld, einerseits effizient hohe Qualität durch Standardisierung zu liefern und anderseits sich der dynamischeren und komplexeren Arbeitswelt durch offenere oder selbstorganisierte Arbeitsformen anzupassen. Die Studie des Personaldienstleisters Hays „Zwischen Effizienz und Agilität“ zeigt das deutlich: 86 Prozent der befragten Führungskräfte tun sich im Alltag schwer, jeweils die Priorität auf Projekt- oder Linienaufgaben zu setzen.
„Wir sind Ingenieure, können hervorragend Probleme lösen und Aufgaben mit einem klaren Ziel abarbeiten“, sagt Ludwig Oesterlein. Doch die rund 25-köpfige Führungsmannschaft des Europipe-Werksleiters muss zunehmend die Expertenrolle verlassen und in die agile Führungsrolle wechseln. Mehr als 1000 Kilometer Großrohre produziert das Unternehmen aus Mühlheim an der Ruhr jährlich. Was auf ersten Blick nach einem Standardprodukt aussieht, ist genau das nicht.
„Wir fertigen zwar Großserien“, erzählt der 57-Jährige, „aber jeder Auftrag ist individuell“. Werkstoffspezifikationen sind unterschiedlich oder Nahthöhe und –breite, die Anforderungen durch Geometrie und Prüf-Temperaturen variieren ebenso. Und natürlich steigt der Kostendruck: Durch die Entwicklung der Materialien soll ein vergleichbares Rohr höhere Drücke aushalten als bisher. „Die Innovationen liegen im Detail“, sagt Oesterlein. Damit bietet Europipe gute Voraussetzungen für einen Strukturwechsel hin zu Agilität und Selbstorganisation.
Zum einen kämpft das Team mit der knappen Arbeitszeit, denn einerseits soll der Betrieb laufen, zum anderen sollen neue Prozesse ausprobiert werden. „Versuchen Sie mal eine Säge während dem Sägen zu schärfen“, beschreibt der Werksleiter das Problem anschaulich. Zum anderen muss sich das Selbstverständnis der Führungskräfte noch stärker verändern. Kollegiale und partizipative Führung hat sich in den vergangenen Jahren als Unternehmenskultur entwickelt, aber Agilität fordert deutlich mehr Loslassen und Vertrauen in die Mitarbeiter.
Umgekehrt sind auch die 400 Mitarbeiter in der Produktion und Instandhaltung nicht gewohnt, selbständig zu entscheiden, dabei möglicherweise Fehler zu machen und diese auch einzugestehen. „Wir sind auf dem Weg“, beschreibt Oesterlein die Situation, „und wir haben festgestellt, dass wir externe Unterstützung benötigen, um mit alten Gewohnheiten zu brechen.“ Zwei, drei Jahre veranschlagt er für den gesamten Prozess.
Die deutsche Wirtschaft, speziell die Industrie, steht seit Jahren in dem Spannungsfeld, einerseits effizient hohe Qualität durch Standardisierung zu liefern und anderseits sich der dynamischeren und komplexeren Arbeitswelt durch offenere oder selbstorganisierte Arbeitsformen anzupassen. Die Studie des Personaldienstleisters Hays „Zwischen Effizienz und Agilität“ zeigt das deutlich: 86 Prozent der befragten Führungskräfte tun sich im Alltag schwer, jeweils die Priorität auf Projekt- oder Linienaufgaben zu setzen. Ohnehin setzen die Unternehmen eher auf die „alten Themen“: Es ist ihnen wichtiger das Kerngeschäft weiterzuentwickeln (52 %), als neue Geschäftsfelder anzugehen (26 %). Sie optimieren lieber bestehenden Abläufe (64 %) statt die Selbstorganisation von Teams zu fördern (17 %). Und sie setzen eher auf Effizienzsteigerung (62 %) als auf den Ausbau von Agilität (48 %).
Auch wenn niemand die Dynamik durch die Digitalisierung genau abschätzen kann, findet Hays-Sprecher Frank Schabel: „Die Organisationsstrukturen halten nicht mit dem rasanten Wandel mit.“ Selbstorganisierte Arbeitsformen erleben aktuell zwar einen Hype, doch umgekehrt können Unternehmen nicht auf Zeit spielen und sich auf ihre Substanz verlassen. Wer wie etwa Nokia den Zug verpasse, kommt nicht mehr hinterher. Ähnlich wie bereits die Musikindustrie erleben aktuell Banken und Versicherungen eine digitale Disruption, weil sie die Dynamik unterschätzt haben. Auch die Medienlandschaft und die Personalwirtschaft werde man in zehn Jahren kaum wiedererkennen, prognostiziert der Mannheimer.
Die Studienteilnehmer nennen ein ganzes Bündel von Hindernissen, die den Weg zum schnelleren und selbstorganisierten Arbeiten verstellen: Den Führungskräften fällt es schwer, ihren Führungsstil zu ändern (61 %), das Kerngeschäft nimmt zu viel Zeit in Anspruch (60 %), die Fachbereiche verharren im Inseldenken (59 %) und bestehende Prozesse stehen geradezu im Widerspruch zu neuen Ansätzen (55 %).
Der IT-Leiter der Leipziger Ontras Gastransport GmbH nickt dazu. „Wir sind ein stark reguliertes Unternehmen“, erzählt Mario Lochmann, „deshalb denken unsere Ingenieure und Techniker sicherheitsorientiert und agieren vorsichtig.“ Das Unternehmen betreibt ein 7000 Kilometer langes Fernleitungsnetz für Erdgas, das für einen Druck bis 100 bar ausgelegt ist. Wegen der hohen Sicherheitsstandards schauen die 300 Mitarbeiter auch dreimal hin. Dementsprechend ticken viele Führungskräfte und Mitarbeiter ganz anders als agile Teams, die einer Nutzergruppe gerne halbfertige Lösungen anbieten, um das Produkt an Hand des Feedbacks mehrfach zu optimieren.
Doch Ontras macht sich auf den Weg agiler zu werden, so hat das Unternehmen vor einiger Zeit einen dreitägigen Sprint organisiert. Einzelne Themen sind in den strategischen Prozess eingeflossen und werden aktuell bereichsübergreifend weiterbearbeitet. Doch spätestens, wenn Entscheidungen getroffen werden, wollen Geschäftsführung und die neun Bereichsleiter ganz klassisch mitwirken. „Wir müssen uns die Methode selbst vermitteln“, sagt der promovierte Wirtschaftsingenieur, „und mehr Verantwortung von oben nach unten abgeben“. Die Arbeit mit neuen Tools funktioniert nur, wenn sich gleichzeitig die Denkweise verändert. „Wir müssen kreativer und schneller werden“, so Lochmann, denn mittelfristig wird das Unternehmen etwa von fossilem Erdgas auf erneuerbare Gase umsteigen oder zusätzliche Dienstleistungen anbieten.
Grundsätzlich sollen die Mitarbeiter nicht parallel in zwei Gruppen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten arbeiten, denn beide Welten müssen zusammenspielen. Deshalb sitzt ein agiles Team an einem Arbeitswelt-Projekt und beschäftigt sich mit der Frage, wie die interne Zusammenarbeit künftig gestaltet werden soll. „Die Teilnehmer werden sich das agile Arbeiten beibringen, andere Denkwege gehen und sich auch coachen lassen“, so der 53-Jährige. „Dieses Kernteam wird dann zur Keimzelle für das gesamte Unternehmen“, ist er überzeugt.
Unter der Spannung von laufendem Kerngeschäft und innovativen Projekten leiden auch die Mitarbeiter, vor allem natürlich in der oft treibenden IT. So arbeitet Felix Cüppers (Name geändert) seit Kurzem nur noch 80 Prozent. „Reiner Selbstschutz“, sagt der Entwicklungsingenieur eines Automobilzulieferers. Zerrissen zwischen eigenem Anspruch und den Anforderungen seines Arbeitgebers zog der 39-Jährige die Reißleine. Als Experte soll er in seiner Abteilung seit drei Jahren ein neues IT-System einführen und standardisieren. Stattdessen ist er an jedem neuen Projekt beteiligt, das dieses System betrifft. In seiner eigenen Abteilung fungiert er deshalb lediglich als Feuerwehr, wenn es Probleme gibt. „Weil ich keine Chance habe, Grundlagen zu schaffen, ist das Sisyphosarbeit“, sagt er frustriert.
Zwar bekommt Cüppers neue Mitarbeiter, die ihm Freiraum verschaffen sollen, doch erstens müssen sie eingelernt werden und zweitens werden auch sie in Projekte eingebunden, wenn sie sein fachliches Niveau erreichen. Die Standardisierungs-Arbeit bleibt liegen. Seinen Chef hält er nicht für „verkehrt“: Der versteht ihn gut, ist aber selbst getrieben von Kosten- und Termindruck. „In der Sandwichposition möchte ich erst recht nicht stecken“. Felix Cüppers hat das Glück, dass der Betriebsrat des Technologiekonzerns Regelungen zur Arbeitszeitreduzierung durchgesetzt hat, sonst würde er weiterhin in der Mühle aufgerieben.
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